Alexander WYNANDS, Bonn

Mathematik nicht nur zum Anfassen


Kurzfassung: Im WS 2002/03 organisierten P. Bungartz und A. Wynands die Ausstellung "Mathematik zum Anfassen" von A. Beutelspacher. Präsentiert wurden die Exponate im Deutschen Museum Bonn. Die Vorbereitung erfolgte in einem Mathematikdidaktischen Seminar an der Universität Bonn. Die Ergebnisse dieses Seminars sind in einem Buch zusammen gefasst. Dieses "Handbuch zur Ausstellung Mathematik zum Anfassen" enthält die Ausarbeitungen der von den Studierenden gehaltenen Referate. Hier wird nicht nur gezeigt, wozu die Exponate motivieren können, sondern auch welche Mathematik darin steckt. Vom Handbuch wurden 500 Exemplaren zur Bonner Ausstellung gedruckt und restlos verkauft oder verschenkt. Ab 2003 gehört es zur Literatur der ständigen Ausstellung "Mathematik zum Anfassen" im MATHEMATIKUM, das am 19.11.2002 in Gießen mit einem Vortrag des Bundespräsidenten Johannes Rau eröffnet wurde. Hinweis: www.math.de und www.mathematikum.de

A. Beutelspacher konzipierte und realisiert "Mathematik zum Anfassen" (MzA) seit 1994. Zur Bonner Ausstellung gab es sechs Wochen vor Ausstellungsbeginn Anmeldungen von 130 Gruppen mit ca. 3000 Schülerinnen und Schülern. Besucht haben unsere zweiwöchige Ausstellung ca. 4000 Schülerinnen und Schüler und etwa gleich viele Erwachsene. Es präsentierte sich MzA einer interessierten Öffentlichkeit, die erlebte, dass Mathematik überraschend schön sein kann. Lehrer und Schüler wurden motiviert, mathematische Objekte anzufassen. Unsere Studierenden waren motiviert, Mathematik nicht nur anzufassen, sondern mehr zu sehen und zu verstehen.

Hans Magnus Enzensberger wählte zur Charakterisierung der zum Teil selbstverschuldeten Isolation der Mathematik(er) die Metapher "Zugbrücke außer Betrieb" [Enzensberger, 2002]. Er fragt "woher es kommt, daß die Mathematik in unserer Zivilisation so etwas wie ein blinder Fleck geblieben ist, ein exterritoriales Gebiet, in dem sich nur wenige Eingeweihte verschanzt haben?" Enzensbergers Antworten treffen Mathematiker und Mathematikdidaktiker, denen es zu wenig gelingt, ihre eigene Begeisterung für ihr Fach anderen mitteilen zu können. Helmut Behr meint in seinem Aufsatz "Das Image der Mathematik" [Behr, 2003], dass es entscheidend sei, bei Schülerinnen und Schülern "die Vorstellung von Mathematik zu verändern: Sie ist bei vielen untrennbar verbunden mit formalen Sekundärtugenden, mit präzisem Ausrechnen, korrektem Einsetzen und der Verwendung standardisierter Schreibweisen. Dies sollte ersetzt werden durch Probieren, Entdecken, Nachdenken, ...". Behr zitiert hier bewusst Formulierungen von A. Beutelspacher, von dem er behauptet, dass dieser "wohl am meisten Öffentlichkeitsarbeit für Mathematik leistet".

Die Exponate von MzA wirken wie ein offenes Tor zu Teilgebieten der Mathematik. Sie animieren und motivieren über eine heruntergelassene Zugbrücke einzutreten und einen Blick zu tun in vielfältige, interessante Vorhöfe, Keller, Gewölbe und Festsäle. Manche, neugierig geworden, schließen sich nach einem ersten Blick vielleicht einer Führung an, bei der sie vieles besser verstehen. Einige werden dann sicher selbstständig auf eigene Entdeckungsreisen gehen.

Die Ausstellung MzA befolgt die Methode der interaktiven Exponate, vgl. [Katalog, 2001]: "Der Besucher macht -alleine oder in Gruppen- selbstständig Erfahrungen mit mathematischen Phänomenen. Er wird nicht belehrt sondern gewinnt Erfahrung. Der Verbalisierungs- und Formalisierungsprozess sind dann weitere Stufen zu einem vertieften Verständnis des Phänomens, die aber in der Ausstellung nicht geleistet werden können." Der an Mathematik interessierte Laie wird sich manchmal an seine Schulmathematik erinnern, die er hier etwas anders präsentiert wieder findet. Den erfahrenen Lehrerinnen und Lehrern für Mathematik zeigen die sehr kurzen Hinweise zu den Exponaten, um welche Mathematik es geht. Wer es aber etwas genauer wissen möchte, wer an einer ausführlichen mathematischen Modellierung (Formalisierung oder Mathematisierung) und an Begründungen möglicher Entdeckungen interessiert ist, wer weiter arbeiten, entdecken und beweisen möchte, dem werden die Ausführungen im Ausstellungskatalog nicht reichen. Schade wäre es deshalb, wenn das didaktische Potenzial der Exponate beschränkt bliebe auf ein Gucken und Staunen oder gar auf ein Hantieren mit gelegentlichen Überraschungseffekten.

Für den Mathematikunterricht sind die Exponate ausgezeichnete Beispiele für Motivationen und auf eigenständiges, kreatives Handeln ausgerichtete Problemeinstiege. Die Exponate sollen zum Denken anregen, und auffordern, über gemachte Erfahrungen mit anderen zu sprechen. Dieses Nachdenken und Kommunizieren über die Mathematik, die in den Exponaten steckt, war Gegenstand unseres Projektseminars. Beteiligung, Eifer und Einsatz der Studierenden waren erfreulich hoch. Die erklärte Absicht, in diesem Seminar gemeinsam die Ausstellung MzA inhaltlich vorzubereiten und durchzuführen, wirkte motivierend. Nie habe ich ein erfreulicheres, erfolgreicheres Seminar durchgeführt als im Team mit Paul Bungartz und den im Inhaltsverzeichnis des Handbuchs genannten Kommilitonen.

Das Ergebnis des Seminars wird festgehalten in diesem Handbuch zur Ausstellung MzA. Der Schwerpunkt aller Beiträge sollte in der Beschreibung des mathematischen Hintergrundes liegen. Hier soll über das reflektiert und kommuniziert werden, was man ausgehend vom Exponat nicht nur greifen und sehen, sondern auch durch Nach- oder Mitdenken verstehen kann. Die Ausführungen hierzu sollten zusammen mit der angegebenen Literatur all denen eine Hilfe sein, die

Mit dieser Sammlung von Referaten wollen wir nicht nur zukünftigen Mathematiklehrern Methoden und Materialien für den Unterricht geben. Wir hoffen, dass auch diejenigen Lehrerinnen und Lehrer, die stets auf der Suche nach konkreten Beispielen für ihren kreativen Mathematikunterricht sind, hier einige Anregungen finden.

Der Autor des Beitrages "Regular Polyhedra and the Football" zum Themenkreis "Platonische und Pythagoräische Körper" ist Prof. Dr. Friedrich Hirzebruch. Ihm gilt ein ganz besonderer Dank, dafür dass er uns sein Manuskript für einen Vortrag zur Verfügung stellte, den er 1997 vor Japanischen Schülern und Studenten gehalten hat. Wir dürfen die Manuskriptseiten mit seiner freundlichen Genehmigung in dieser Form hier drucken.

Aus dem Inhaltsverzeichnis des Handbuches zur Ausstellung MzA:

  1. Pythagoras zum Klappen - im Exponats klappt´s. Aber warum stimmt der Satz des alten Griechen wirklich immer? Becker, Lina
  2. Gleichdicks - Der Kreis ist überall gleich dick, aber viele "eckige Räder" sind auch Gleichdicks. Herms, Kerstin
  3. p in Ziffern und Buchstaben - Die Kreiszahl mit ihren unendlich vielen Ziffern birgt viele Überraschungen. Uessem, Eva
  4. 2hoch - Stapelei; Binäres Messen - Mit Scheiben verschiedener Dicke die eigene Körpergröße messen. Weyler, Monika
  5. Turm von Ionah - Der Turm von "HANOI" steht hier auf dem Kopf, die größten Scheiben liegen oben. Weyler, Monika
  6. Drehspiegel und Spiegelkasten - Spiegelexperimente, bei denen mehrfach Seiten vertauscht werden. Ingenrith, Ester
  7. Ich bin eine Funktion - Beim Gehen erfährt man, wie man selbst einen Funktionsgraphen erzeugt. Krause, Julia
  8. Grüne raus - Zufallswürfe mit Würfeln führen nicht zufällig zu Wachstums- und Zerfallsfunktionen. Henke, Sonja
  9. Surprise, surprise - Ein Spiel mit Würfeln, die zu Entdeckungen über "Wahrscheinlichkeiten" führen. Wagner, Karsten
  10. Leonardobrücke - Eine geniale Idee von Leonardo da Vinci
    Peters, Anke
  11. Quadrat-Puzzle - Für welche Rechtecke (Zahlen) gibt es perfekte Zerlegungen in Quadrate? Horeyseck, Georgia
  12. Knobeltisch - Puzzle, die schöne Formen erzeugen und zu Entdeckungen führen, über die man gerne spricht. Günther, Carla
  13. Penrose-Puzzle - Mit Darts und Kites entstehen ganz besonders interessante aperiodische Mosaikmuster. Rüb, Raffaela
  14. Tetraeder im Würfel - Wer weiß, was alles in einen Würfel passt? Maresch, Ernst
  15. Körper zum Selberbauen - Platonische und Archimedische Körper, schön für Hand und Verstand. Geuter, Eva & Weber, Thorsten
  16. Tensegrity - Mit Stäben und Fäden werden kunstvolle, technisch interessante Gebilde gespannt. Blome, Benedikt
  17. Aus gerade wird rund - Mit gespannten Fäden und geraden Stäben entstehen gekrümmte Flächen im Raum. Degenhardt, Lars
  18. Kürzeste Verbindungen - ... zwischen Städten sind gesucht und Fermat´s Punkt im Dreieck. Strauß, Conny & Schneider Isa
  19. Seifenhäute - Kantenmodelle und Minimalflächen in Natur und Technik. Helzel, Christian
  20. Fraktale Geometrie - Die Länge der Nordseeküste, ein Chaos-Spiel, fraktale Abbildungen und Gemüsesorten. Hochscheid, Markus
  21. Brachystochrone - Wo geht´s am schnellsten runter? Der kürzeste Weg ist nicht immer der schnellste. Langenfeld, Ulrich
  22. Potentialtrichter - Lange kreist eine Münze im Trichter bevor sie schließlich zu Gunsten von "MzA" verschwindet. Greber, Gunnar
  23. Regular Polyhedra and the Football
    Prof. Dr. Friedrich Hirzebruch

Literatur
Behr, H.: Das Image der Mathematik - und was man dagegen tun kann. Math. Semesterber. 49 (2002)

Enzensberger, H.M.: Zugbrücke außer Betrieb oder Die Mathematik im Jenseits der Kultur. Die Elixiere der Wissenschaft (Suhrkamp 2002) oder: address at th 50th Internat. Congress of Mathematicians in Berlin, August 1998 (ISBN 1-56881-099-7)

Katalog zur Ausstellung mathematik zum anfassen. www.math.de (2001)

Wynands, A. & Bungartz, P.: Handbuch - Mathematik zum Anfassen. www.mathematikum.de (2003) wynands@math.uni-bonn.de